Freud, Sigmund (1937a): Lou Andreas-Salomé. Nachruf. IZP. XXIII, 1937, 5

 

Nachruf
Lou Andreas-Salomé

Am 5. Februar dieses Jahres starb eines sanften Todes in ihrem Häuschen in Göttingen Frau Lou Andreas-Salomé, nahezu 76 Jahre alt. Die letzten 25 Lebensjahre dieser außerordentlichen Frau gehörten der Psychoanalyse an, zu der sie wertvolle wissenschaftliche Arbeiten beitrug und die sie auch praktisch ausübte. Ich sage nicht zu viel, wenn ich bekenne, dass wir es alle als eine Ehre empfanden, als sie in die Reihen unserer Mitarbeiter und Mitkämpfer eintrat, und gleichzeitig als eine neue Gewähr für den Wahrheitsgehalt der analytischen Lehren.
Man wusste von ihr, dass sie als junges Mädchen eine intensive Freundschaft mit Friedrich Nietzsche unterhalten hatte, gegründet auf ihr tiefes Verständnis für die kühnen Ideen des Philosophen. Dies Verhältnis fand ein plötzliches Ende, als sie den Heiratsantrag ablehnte, den er ihr gemacht hatte. Aus späteren Jahrzehnten wurde bekannt, dass sie dem großen, im Leben ziemlich hilflosen Dichter Rainer Maria Rilke zugleich Muse und sorgsame Mutter gewesen war. Aber sonst blieb ihre Persönlichkeit im Dunkel. Sie war von ungewöhnlicher Bescheidenheit und Diskretion. Von ihren eigenen poetischen und literarischen Produktionen sprach sie nie. Sie wusste offenbar, wo die wirklichen Lebenswerte zu suchen sind. Wer ihr näher kam, bekam den stärksten Eindruck von der Echtheit und der Harmonie ihres Wesens und konnte zu seinem Erstaunen feststellen, dass ihr alle weiblichen, vielleicht die meisten menschlichen Schwächen fremd oder im Lauf des Lebens von ihr überwunden worden waren.
In Wien hatte sich dereinst das ergreifendste Stück ihrer weiblichen Schicksale abgespielt. 1912 kam sie nach Wien zurück, um sich in die Psychoanalyse einführen zu lassen. Meine Tochter, die mit ihr vertraut war, hat sie bedauern gehört, dass sie die Psychoanalyse nicht in ihrer Jugend kennen gelernt hatte. Freilich gab es damals noch keine.
Sigm. Freud